Von Linda Kortüm-Jung (10 Min Lesezeit)
Von Linda Kortüm-Jung (10 Min Lesezeit)
Ich würde gerne mehr Sport machen. Ich müsste mich eigentlich mal gesünder ernähren. Weniger Netflix gucken wäre auch gut. Solche Gedanken kennst du sicher auch. Wir wünschen uns eine positive Veränderung in unserem Leben. Gerne fassen wir auch zum Start eines jeden neuen Jahres gute Vorsätze. Die Umsetzung fällt uns allerdings oft schwer. Wir schnüren eine Woche lang jeden Tag die Sportschuhe, aber danach wird’s irgendwie mühselig, der ständige Regen ist wenig einladend und dann ist die Couch irgendwie verlockender. Oder wir geben die gesunde Ernährung auf, weil wir den Pommes in der Kantine doch nicht widerstehen können (ja, ich spreche da zufällig aus Erfahrung). Wenn wir uns weg von unkonkreten Vorsätzen bewegen und hin zu durchdachten neuen Routinen oder Gewohnheiten, stehen unsere Chancen gut, wirklich konsequent etwas zu verändern.
Gewohnheiten haben einen echten Nutzen für uns. Sie helfen unserem Gehirn dabei, in vielen Situationen schneller zu arbeiten. Es sind tatsächlich 95% unserer alltäglichen Entscheidungen und 30-50% unserer Handlungen, die unterbewusst ablaufen. Sie erreichen unser Bewusstsein gar nicht erst.
Die vielen kleinen alltäglichen Dinge passieren meist automatisch: Die Tür abschließen, wenn du dein Haus oder deine Wohnung verlässt, zum Beispiel. Du muss nicht darüber nachdenken, wie das geht und vergisst in der Regel auch nicht, es zu tun. Und das ist gut, denn du sparst dadurch sehr viel Energie. Stell dir mal vor, du müsstest jeden Morgen wieder neu überlegen, wie Zähneputzen funktioniert und dich entscheiden, ob du dir die Zähne putzt oder nicht. Du hast bestimmt auch schon davon gehört, dass viele erfolgreiche Menschen (z.B. Barack Obama) jeden Tag die gleichen Anziehsachen tragen. Sie wollen damit die täglichen Entscheidungen reduzieren und Energie sparen. Ihre Energie nutzen sie lieber für Unvorhergesehenes und komplexe Aufgaben (z.B. planen, organisieren oder ein Land regieren).
Es gibt aber Gewohnheiten, die nicht so gut für uns sind oder die uns unzufrieden machen. Unser Gehirn unterscheidet nämlich leider nicht zwischen gut und schlecht. Und so etablieren sich auch Routinen, mit denen wir ganz und gar nicht glücklich sind. Zum Beispiel der ständige Griff zum Handy oder in die Chipstüte (oder auch in Kombination). Die gute Nachricht ist, dass wir gute Gewohnheiten bewusst entwickeln (und damit auch schlechte Routinen loswerden) können. Eine Studie ergab sogar, dass aus einer guten Gewohnheit meist weitere gute Routinen folgen – das klingt doch vielversprechend!
Gewohnheiten entstehen durch Lernen. Wenn wir eine Tätigkeit zum ersten Mal machen, benötigen wir dafür sehr viel Energie. Je öfter wir diese Tätigkeit wiederholen, desto mehr automatisiert sie sich.
Mit dem Habit Loop (Gewohnheitsschleife) kann man sehr schön nachvollziehen, wie Gewohnheiten entstehen.
Am Anfang steht immer der auslösende Reiz. Er folgt einem Muster wie z.B. der gleichen Uhrzeit oder dem gleichen Kontext (z.B. der Wunsch nach Entspannung). Das Gehirn lernt dann mit einem bestimmten Verhalten auf diesen Reiz zu reagieren (Fingernägel kauen). Für den Reiz wurde so eine Lösung gefunden und es werden als Belohnung Botenstoffe (insbesondere der Neurotransmitter Dopamin) im Gehirn ausgeschüttet. Die Botenstoffe signalisieren, dass die Strategie, die wir angewendet haben, erfolgreich war. Das Gehirn erinnert sich beim nächsten Reiz an das erfolgreiche Verhalten und wiederholt dieses. So wird daraus eine Gewohnheit.
Welche Prozesse laufen dabei aber genau in unserem Gehirn ab? Befinden wir uns noch im Lernprozess (und tun Dinge zum ersten Mal) ist der Präfrontale Kortex im Stirnbereich unseres Schädels aktiv – er ist zuständig bei bewussten Handlungen. Es übernimmt sozusagen unsere Willenskraft das Steuer. Wenn du eine Sache dann häufiger tust, wird sie mehr und mehr zur Routine. Dann ist nicht mehr der Präfrontale Kortex aktiv, sondern tiefere Regionen unseres Gehirns. Die sogenannten Basalganglien werden aktiv. Sie liegen mittig im Gehirn und sind für Routinehandlungen zuständig – unser Gehirn befindet sich dann in einem entspannten und energiesparenden Modus. Wollen wir eine Gewohnheit ändern, befinden wir uns logischerweise wieder auf der Ebene des Präfrontalen Kortex, im Bewussten. Unsere Gewohnheiten sind aber in einem viel älteren Teil des Gehirns abgelegt und laufen schnell und automatisiert ab. Und das heißt: wir können unsere inneren Programme nicht so einfach löschen. Veränderungen brauchen daher viel Raum und Zeit, damit sich in der Tiefstruktur des Gehirns etwas tut und neue neuronale Verbindungen aufgebaut werden. Wenn es dir also schwerfällt, eine neue Gewohnheit zu etablieren oder eine Ungeliebte abzulegen, ist das ganz normal. Das liegt nicht an deiner mangelnden Willenskraft, sondern an den schlauen Mechanismen deines Gehirns.
Nach einem anstrengenden Tag, an dem du viele Entscheidungen getroffen hast, ist es schwer noch die Willenskraft aufzubringen, deine neue Gewohnheit umzusetzen. Studien haben ergeben, dass Willenskraft limitiert und irgendwann erschöpft ist. Sind Gewohnheiten hingegen etabliert, muss man nicht mehr auf seine Willenskraft zurückgreifen. Ähnliches gilt für Stress. Unter Stress greifen wir (oder unser Gehirn) am liebsten auf gewohnte Verhaltensweisen zurück. Wir sparen dadurch Energie, die wir brauchen, um herausfordernde Zeiten zu meistern. Daher sind gerade gute Gewohnheiten in diesen Zeiten wichtig. Das heißt auch: In entspannten Zeiten ist es einfacher, neue Routinen zu entwickeln.
Manchmal sind Routinen nicht nur hilfreich. Sie können unter Umständen auch hinderlich sein. Zum Beispiel mussten viele Menschen während der Pandemie plötzlich im Home Office arbeiten und sich von Jetzt auf Gleich neue Routinen aneignen und an die neue Situation anpassen. Hältst du zu verbissen an gewissen Gewohnheiten fest, wird es dir schwerfallen, in Zeiten der Veränderung entspannt zu bleiben. Achte daher im Alltag darauf flexibel zu bleiben und bewusst mal kleine Dinge anders zu machen, z.B. mal auf der anderen Seite des Esstischs zu sitzen, deinen morgendlichen Kaffee in einem anderen Raum zu trinken als sonst oder eine andere Frisur zu tragen als gewöhnlich.
Bis zu einer neuen Gewohnheit braucht es durchschnittlich 66 Tage – so die Wissenschaft. Wenn du dir eine neue Gewohnheit aneignen oder auch eine Schlechte ersetzen willst, ist es ratsam, wohlwollend mit dir umzugehen. Denn du weiß ja jetzt, dass nachhaltige Veränderung kontinuierliches Einüben und Trainieren anderer Verhaltensweisen beinhaltet. Und wenn du ein oder zwei Mal mit einer Gewohnheit brichst (auch das haben Studien ergeben), wird dir dein Gehirn auf jeden Fall verzeihen – wenn du danach wieder am Ball bleibst.
Oft steht hinter einer neuen Gewohnheit ein größeres Ziel. Ganz zu Anfang deines Vorhabens kannst du sehr gut die 5-Why-Methode anwenden und überprüfen, ob deine Gewohnheit und dein Ziel gut zusammenpassen. Sie hilft dir dabei, deinen Motiven auf den Grund zu gehen und fördert dein Durchhaltevermögen für die kontinuierliche Umsetzung.
Die 5-Why-Methode ist ursprünglich eine Methode aus dem Qualitätsmanagement zur Ursache-Wirkung-Bestimmung. Sie wird zum Beispiel genutzt, um die Probleme bei fehlerhaften Prozessen zu identifizieren. In unserem Fall kannst du sie ganz einfach übertragen. Du nimmst deine neue Gewohnheit (z.B. Ich möchte mehr Gemüse essen) und fragst 5 Mal: Warum? Am besten schreibst du die Antworten sogar auf. Das kann dann so aussehen:
Meine neue Gewohnheit: Ich möchte mehr Gemüse essen.
Warum? Weil ich mich gesünder ernähren möchte.
Warum? Weil ich mich besser fühlen möchte.
Warum? Weil ich mich oft müde und energielos fühle.
Warum? Weil ich kaum die Zeit finde, neben der Arbeit etwas für mich zu tun.
Warum? Weil ich gar nicht genau weiß, was mir neben der Arbeit überhaupt noch Spaß macht und ich Angst habe, mich zu langweilen.
Die Anzahl 5 ist hier nur symbolisch zu verstehen. Es lohnt sich mindestens 5 Mal zu fragen, aber auch öfter, wenn du das Gefühl hast, dass du noch mehr herausfindest. So gelangst du zu deinen tieferen Gründen und kannst noch einmal überlegen, ob deine neue Gewohnheit tatsächlich dazu beiträgt, deinen Zielen oder Herausforderungen näher zu kommen. Oder ob du doch eine andere Gewohnheit etablieren willst. Die Person in unserem Beispiel entscheidet sich tatsächlich dafür, mehr Gemüse zu essen und gleichzeitig einen Kochkurs für gesunde Ernährung zu besuchen, um herauszufinden, ob Kochen ein neues Hobby werden kann. So kannst du um deine Gewohnheit weitere Bedürfnisse herumbauen, die dir das Dranbleiben erleichtern.
Sicher kannst du dir bereits denken, dass Ziele wie „Ich möchte mehr Gemüse essen“ oder „Ich möchte mich gesünder ernähren“ einfach zu unspezifisch sind. Wir können hinterher nicht sagen, ob wir erfolgreich waren, weil was genau bedeutet schon „mehr“ oder „gesünder“? Besser ist es, kleine Handlungen zu definieren, die auf dieses Ziel einzahlen. Zum Beispiel: Ich esse jeden Tag mindestens 2 verschiedene Sorten Gemüse. Wenn du mehr Sport machen willst, aber aktuell der totale Sportmuffel bist, solltest du dir vielleicht nicht vornehmen, ab jetzt jeden Tag zwei Stunden ins Fitnessstudio zu gehen. Halte es einfach und realistisch. Deine neue Gewohnheit könnte zum Beispiel lauten: Ich bewege mich mindestens drei Mal die Woche 30 Minuten am Stück. Plane auch ein, dass mal was dazwischenkommen kann. Vielleicht legst du dann prinzipiell für jede Woche 4 Termine fest, statt drei, sodass du einen Ausweichplan hast.
Der Habit Loop zeigt, dass Gewohnheiten eine bestimmte Belohnung bringen (z.B. Entspannung durch Fingernägelkauen). Du kannst dieses Wissen nutzen, indem du die Gewohnheitsschleife identifizierst. Welche Belohnung bringt deine Gewohnheit und wie kannst du vielleicht noch zu dieser Belohnung kommen? Überleg dir, wie du auf den Reiz, also den Auslöser, reagieren möchtest, wenn er das nächste Mal kommt. Bei dem Bespiel mit den Fingernägeln brauchst du etwas, das du direkt tun kannst (den auch die Fingernägel sind ja immer in greifbarer Nähe) – zum Beispiel eine Atemübung. Genauso kannst du umgekehrt vorgehen und unattraktive Elemente einbauen. Wenn du erst zum Supermarkt laufen musst, um Chips zu kaufen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass du diesen Umstand tatsächlich auf dich nimmst.
Reflektion wird dir helfen, deine neue Routine erfolgreich zu etablieren (wir erinnern uns an das Bewusste und den präfrontalen Kortex). Mit dieser Methode kannst du regelmäßig – gerne handschriftlich - über deine neue Gewohnheit in 3 Schritten reflektieren:
Dankbarkeit ist in der positiven Psychologie mittlerweile gut erforscht. Dankbarkeit hilft dir dabei, dich langfristig glücklicher zu fühlen. Und sie kann dabei helfen, deine neue Gewohnheit liebzugewinnen. Du kannst zum Beispiel jeden Tag überlegen, ob es einen spezifischen Moment gab, den du durch deine neue Gewohnheit erfahren hast und wofür du dankbar bist? Versuche dabei möglichst konkret zu werden und das Gefühl von Dankbarkeit ganz bewusst wahrzunehmen.
Frage dich: Was genau habe ich heute durch meine neue Gewohnheit gelernt? Und was bringt mir das Gelernte? Du kannst auch über Rückschläge reflektieren. Das hilft dir dabei, die Entwicklung einer neuen Routine als Lernprozess zu begreifen und dich von Rückschlägen nicht so schnell entmutigen zu lassen.
Zum Thema Verbindung kannst du in zwei mögliche Richtungen denken. Einmal geht es um die Verbindungen, die in deinem Kopf entstehen. Also Erkenntnisse, die du durch deine neue Gewohnheit gewinnst. Außerdem kannst du in Verbindung mit anderen treten und so deine neue Gewohnheit stärken. Du könntest dich zum Beispiel mit einer Freundin, die sich sehr gesund ernährt, zum Kochen treffen und von ihr mehr über gesunde Ernährung lernen.
Und jetzt heißt es anfangen. Und dabei ist es nicht wichtig, wie groß dein erster Schritt ist, sondern in welche Richtung du gehst. Viel Erfolg bei deiner neuen Gewohnheit (letzter Tipp: eine Einzige ist einfacher zu etablieren als ganz viele auf einmal).